Hardangervidda

Sonntag, 2. September 2012: Hardangervidda

Heute geht es also auf eine Mehrtagestour in die Hardangervidda. Diese Hochebene ist zum großen Teil ein Nationalpark. Keine öffentliche Straße durchquert sie, und abgesehen von ein paar Hütten gibt es keine menschlichen Siedlungen. Also im Prinzip gute Voraussetzungen, menschenleere Weite und pure Natur zu erleben.

„Im Prinzip” deshalb, weil die Wettervorhersagen leider nicht besonders gut ausfallen. Es ist kühles Wetter mit gelegentlichem Regen vorhergesagt, also ist das reine Vergnügen nicht zu erwarten. Aber was will man machen. Wenn man schonmal hier ist, dann muss man es wenigstens versuchen.

Ich fahre also erstmal durch Røldal hindurch bis zur Abzweigung zum Valldalsvatn. Dort führt die Straße am See entlang, bis der Asphalt bald endet. Auf der noch gut befahrbaren Schotterstrecke geht es weiter bis zum Ende der Straße. Dort, kurz vor einem Hof, findet sich ein Parkplatz (eigentlich eine breitere Stelle der Straße) mit einem Dutzend Stellplätzen. Dort werde ich mein Auto für die nächsten drei Tage parken.

Die geplante Route geht am Hof vorbei zuerst zur Hütte Middalsbu, weiter in grob nordöstlicher Richtung ungefähr bis zur Hütte Hellevasbu. Dort wird im Zelt übernachtet. Am zweiten Tag führt der Weg nach Nordwesten bis Litlos. Nach einer weiteren Übernachtung wird das Dreieck geschlossen durch den Rückweg an der Middalsbu vorbei zurück zum Auto und wieder nach Røldal. Jede Tagesetappe umfasst ungefähr 15 Kilometer, was auch mit Gepäck noch gut zu bewältigen sein sollte.

Hardangervidda bei der Middalsbu

Der westliche Teil der Hardangervidda ist eher bergig, im Gegensatz zum östlichen Teil, der zwar hoch liegt, aber weniger große Höhenunterschiede aufweist. Dementsprechend steigt der Weg langsam aber stetig an, von ca. 800 Meter Höhe bis auf fast 1500 Meter. Der Weg bis zur Middalsbu ist breit und geschottert. Sogar das Wetter ist besser als erwartet, die Sonne lässt sich für wenige Augenblicke durch die Wolkendecke blicken.

Bei der Middalsbu endet der breite Weg. Nach der Abzweigung zur Hellevasbu ist der Weg nur noch ein Trampelpfad. Hier geht die Hardangervidda erst richtig los. Es geht vorbei an der letzten Bewaldung, immer entlang am weit verzweigten Wasserlauf. Im Hintergrund die abgerundeten Gipfel der westlichen Hardangervidda, davor wilde Bergflüsse zwischen Felsen.

Leider fängt es jetzt an zu nieseln. Einsatz für Regenjacke und Rucksackhülle. Die Temperaturen sind noch OK, und beim Laufen wird einem sowieso nicht so schnell kalt. Bald wird die Vegetation dünner, bis die letzten Birken verschwunden sind. Zwischen den Felsblöcken nur noch Gras, Moos und niedriges Blaubeergestrüpp. Ab und zu kreuzt der Weg die Zuflüsse, die den Fluss in diesem Tal speisen. Die muss man dann überqueren, selbstverständlich ohne Brücken. Die Trittsteine sind meist gut zu finden. Bei den breiteren Wasserläufen muss man aber teilweise ein paar Minuten suchen, bis man die richtige Querung findet. Die Trittsteine sind schlimmstenfalls ein paar Zentimeter unter Wasser, so dass die Füße im Wesentlichen trocken bleiben.

Der Weg zieht sich so ein paar Stunden. Anderen Leuten begegne ich kaum, vielleicht insgesamt 10 Personen, die alle in Richtung Middalsbu unterwegs sind. Schließlich komme ich in die Nähe der höchsten Erhebungen bei 1500 Metern. Die Landschaft besteht mittlerweile fast nur noch aus Felsen mit nur wenig Vegetation dazwischen. Zudem führt der Weg nun auch über Schneefelder. Diese schneegefüllten Senken sind wohl eher als Gletscher zu bezeichnen. Jedenfalls ist der Untergrund vereist, und die Oberfläche ist hart. Man sinkt kaum über die Schuhsole ein. Diese Firnfelder sind keine fließenden Gletscher, und sie sind nicht besonders dick. Dadurch bilden sich auch keine Spalten, was die Überquerung relativ problemlos macht. Nur am Rand, wo der Firn an die Felsen stößt, ist das Eis (durch den leicht wärmeren Fels) angetaut und eventuell unten hohl. Man sucht sich da besser Stellen zum Betreten und Verlassen des Eisfeldes, wo das Eis an eine steile Felskante anstößt, so dass die Lücke eher senkrecht steht und stabiler ist. Die eher flachen Kanten sind eventuell zu dünn und wenig tragfähig. Auf jeden Fall ist es eine gute Idee, die äußerste Kante mit einem großen Schritt zu überschreiten. Auf dem Firnfeld selbst kann man gut laufen. Die Oberfläche ist griffig genug für feste Wanderschuhe, und die Felder sind meist kaum abschüssig.

Schließlich ist, bei recht ungemütlichem Wetter, die höchste Stelle überschritten. Danach geht es vergleichsweise steil hinunter in Richtung des Vassdalsvatn. An diesem See vorbei führt der Weg. Dort findet sich zwar wieder etwas mehr Gras zwischen den Steinen, aber das macht den Weg nicht besser begehbar. Der Pfad ist dort in Prinzip eine 30 Zentimeter breite Aneinanderreihung von Felsbrocken und Matschlöchern. Der Dauerregen hat den Weg nicht besser gemacht, und die Schuhe sind auch nicht mehr ganz so wasserdicht wie sie einmal waren. Es ist mittlerweile 5 Uhr nachmittags, und laut GPS kommt die Hütte kaum näher. Man läuft und läuft, und die restliche Tagesstrecke verharrt bei 4 Kilometern. Bei der Stolperstrecke an dieser Stelle kommt man auch kaum voran. Deshalb treffe ich eine Entscheidung: Ich laufe an diesem Tag nicht mehr bis zur Hütte. Ich wollte ja sowieso nicht darin übernachten, und sie liegt auch etwas hinter der Abzweigung für die nächste Etappe. Also suche ich eine passende Stelle für das Zelt am Uferhang des Vassdalsvatn. Das ist gar nicht so einfach, denn es gibt kaum Stellen, die auf ein paar Quadratmetern keine Felsblöcke enthalten, sondern nur weichen Boden, und die auch einigermaßen flach und nicht zu stark geneigt sind. Auf den meisten solcher Stellen steht dann auch noch Wasser. Deshalb muss ich dann schon bald eine halbe Stunde suchen, bis ich meinen Übernachtungsplatz gefunden habe.

Mittlerweile hat der Wind und der Regen etwas angezogen. Deshalb beeile ich mich mit dem Zeltaufbau, was bei den Umständen ganz gut und schnell klappt. Die Apsis des Zeltes ist gerade groß genug, um darin den Kocher zu betreiben. Das Kochwasser hole ich aus dem See. Das Wasser ist absolut klar, und es wird ja sowieso gekocht. Überhaupt ist das Wasser der Bäche in der Hardangervidda bedenkenlos trinkbar. Es ist nicht nötig, literweise Wasser mitzubringen, was auch Gewicht im Rucksack spart.

Mit einem warmen Abendessen und Tee ist es im Zelt fast gemütlich, während es draußen schlechter wird. Der Wind lässt die Zeltplane zeitweise heftig flattern (gut, dass ich Ohrstöpsel für die Nacht dabei habe!), und der Niesel ist zum Dauerregen geworden. Das lässt nichts Gutes für den nächsten Tag erahnen. Wenigstens ist das Zelt wasserdicht, und die Temperaturen in der Nacht sind gerade so erträglich.

Montag, 3. September 2012: Hardangervidda

Die schlechten Aussichten haben sich bestätigt. Es hat die ganze Nacht weiter geregnet, und der Wind hat teilweise so beständig geweht, dass es im Zelt richtig kühl wurde. Ich habe dann mit der goldfarbenen Rettungsdecke aus dem Erste-Hilfe-Päckchen improvisiert und den Schlafsack etwas winddichter gemacht, so dass ich komfortabel durchschlafen konnte.

Ein Blick am Morgen aus dem Zelt stimmt nicht optimistisch. Beim Frühstückskaffee reift langsam die Entscheidung: Das aktuelle Wetter ist schlechter als erwartet, und die Vorhersagen für die nächsten Tage sind noch schlechter (kälter mit mehr Regen, und eventuell sogar Schnee). Ich werde also nicht weiter die geplante Runde laufen, sondern den gleichen Weg wie am Vortag zurückgehen. Glücklicherweise habe ich mein Gepäck am Vortag in der Unterkunft in Røldal lassen und den Hausschlüssel mitnehmen können (ich war zu der Zeit der einzige Gast, so dass die Vermieterin dadurch nichts verloren hat).

Der Zeltabbau war bei dem stärkeren Wind und Regen nicht ganz so einfach wie am Vortag. Die Unterlage hätte es mir beinahe davon geweht. Am Ende ist aber alles wieder komplett verstaut. Angesichts des Wetters kommen nun auch Beinlinge und Mütze zum Einsatz.

Schon bei den ersten Gewässerquerungen zeigen sich die Auswirkungen des Wetters: Durch den Dauerregen ist der Wasserstand überall höher als am Vortag. Es ist deutlich kniffliger, die Trittsteine zu finden, und die Schuhe sinken deutlich tiefer ein.

Nach dem Anstieg am Vassdalsvatn begrüßt mich in der Höhe erstmal Nebel, der am Vortag auch noch nicht da war. Solange der Weg über die Felsen führt, ist das weiter kein Problem. Knifflig wird das dann bei den Firnfeldern: Man kann von der einen Seite aus nicht den Zielpunkt auf der anderen Seite sehen. Da ist dann die beste Methode, der Richtung der auf den Felsen gemalten Pfeile möglichst gerade zu folgen. Am anderen Ende des Firnfelds findet man dann relativ schnell wieder die Wegmarkierungen. Auch erweist es sich als genau richtig, dass ich am Vortag die Aufzeichnung auf meinem GPS habe mitlaufen lassen. In den Geröllfeldern habe ich doch ein paar Mal die Markierungen verpasst. Ein Blick auf das GPS hat mich dann immer zuverlässig zum Weg vom Vortag zurückgeführt.

Zurück am höchsten Punkt bei ca. 1500 Metern erweist sich die Entscheidung zurückzukehren als goldrichtig: Es ist windig, es regnet fast horizontal, die Temperaturen eine handbreit über Null. Die Beinlinge haben zu dem Zeitpunkt praktisch auch schon ihre Funktion verloren (Kauftipp: lieber doch eine richtige Regenhose besorgen). Die Brille ist praktisch nutzlos geworden. Durch die feuchten Füße sind jetzt auch die beim Kjerag angefangenen Blasen vollständig durchgebrochen, und beim Stolpern über den schlechten Weg habe ich mir auch noch Blutergüsse unter den Nägeln der kleinen Zehen zugezogen (Autsch!). Spaß sieht anders aus.

Kurz vor Ende des Rückwegs bin ich dann wieder an dem größeren Bach, der auch schon auf dem Hinweg schwierig zu überqueren war. Mit dem höheren Wasserstand wird das nicht einfacher. Nach einer Viertelstunde Suche nach einer guten Stelle gebe ich auf. Es bleibt nichts anderes übrig als einfach direkt durchs Wasser zu laufen. Die Trittsteine lasse ich lieber ganz aus, um nicht auch noch im Bach zu stürzen. Also Augen zu und durch. Auf der anderen Seite ist dann erstmal Schuhe ausleeren und Socken auswringen angesagt. Aber es sind nur mehr wenige Kilometer zum Auto, und das restliche Wasser in den Schuhen wird beim Laufen wieder warm.

Nach fünf Uhr bin ich dann wieder am Hof nach der Middalsbu angekommen. Dort begegnet mir das erste menschliche Wesen des Tages. Zuvor habe ich nur ein paar Schafe gesehen, und die Rentiere der Hardangervidda sind bei dem Wetter wohl auch lieber daheim geblieben. Das Auto steht noch wo ich es abgestellt habe, und dort gibt's auch trockene Schuhe und Kleidung. Die Rückfahrt nach Røldal dauert nicht lange, und selten habe ich mich so auf eine warme Dusche gefreut.

Dienstag, 4. September 2012: Ruhetag

Heute ist der Tag, an dem ich eigentlich die dritte Etappe in der Hardangervidda absolvieren wollte. Stattdessen ruhe ich mich in Røldal aus. Die Unterkunft ist glücklicherweise auf Skifahrer im Winter vorbereitet. Das heißt, es gibt einen Trockenraum, in dem ich das Zelt und den Schlafsack zum Trocknen aufhängen kann. Außerdem gibt es einen beheizbaren Trockenschrank, der erst meine nasse Kleidung und dann (nach längerer Zeit) auch die Wanderschuhe wieder trocken bekommt. Ich bin mittlerweile der einzige Gast im Haus, deswegen kann ich mich richtig breit machen.

Später kommt auch die Vermieterin nochmal vorbei. Sie meint, dass das Wetter für die Jahreszeit wirklich schlecht ist, und dass das Umkehren eine gute Entscheidung war.